Mein Leben der Gegensätze

Mal laut, mal still. Mal lustig, mal tieftraurig. Mal zurückgezogen, mal total outgoing. 

Mein Leben mit einem psychisch erkrankten, alkoholabhängigen, gewalttätigen Vater ist, seit ich denken kann ein Leben der Gegensätze. Nie zu wissen welchen Papa man bekommt verunsichert mich noch heute – mit über 30 Jahren. Herrscht heute Depression und Bier oder ist ein guter Tag? Als Kind wahnsinnig verunsichernd, als Teenager kaum auszuhalten. Stets in einem Gefühlschaos zu leben eine ständige Zerreißprobe. Kindersendungen mit harmonischen Familien mein Lebenstraum. 

 

Mein Aufwachsen mit einem psychisch erkrankten Elternteil und die eine Ressource

Bereits früh habe ich gemerkt meine Familie ist anders. Papa trinkt gerne Bier, hasst es, wenn wir Kinder laut sind und wird schnell wütend. Papa arbeitet viel und braucht Ruhe, wenn er zuhause ist. Papa ist aber auch ein lustiger Mann und alle Freunde lieben ihn. Mit ihm kann man immer Spaß haben, er ist so gesprächig, tanzt gerne und ist klug. In seiner Firma hoch angesehen, eine Position inne die viel Verantwortung fordert. Frau und Kinder zuhause im Eigenheim. Funktionieren zu müssen die höchste Priorität. Die Priorität, die ihm schlussendlich zu Fall bringt – die ihn ins Burnout stürzt, aus dem er nie wieder rauskommt. 

Andere Teenager freuen sich nach der Schule heimzukommen, ich habe Angst. Papa ist jetzt zuhause: Krankenstand aufgrund Depression und Burnout – gepaart mit Alkoholismus eine Situation zum Fürchten. Nicht zu wissen, ob ich heimkomme und in Ruhe Hausübungen machen kann, ob ich in betrunkene Streitereien gerate oder mucksmäuschenstill sein muss, um ihn ja nicht aufzuwecken – eine tägliche Zerreißprobe meiner Nerven. Ständige Wut in mir zu tragen, weil ich doch auch einfach nur ein normales Leben will und allem voran das Gefühl zu haben niemandem geht es so wie mir. Ich, meine Geschwister, meine Mama – wir sind allein mit der Situation. Ich fange an mich zurückzuziehen und versuche irgendeine Bewältigungsstrategie zu finden. Immer öfter greife ich zur Klinge und ziehe mir selbst Verletzungen zu. Ich zerschneide mir den gesamten Arm – aus heutiger Sicht ein Schrei nach Hilfe, damals eine Methode irgendetwas unter Kontrolle zu behalten. Ich habe das Gefühl völlig allein auf dieser Welt zu sein und in einem Teufelskreis zu leben, der niemals unterbrochen werden kann. Solange bis ich Freunde mit ähnlichen Verhaltensmustern finde. Freunde die sich auch ritzen, Freunde mit teils schrecklicher Vergangenheit. Plötzlich ist da dieses Gefühl von Zusammengehörigkeit und Verständnis. Da gibt es jemanden für den ein happy life auch nur im Fernsehen existiert. Wir tauschen uns aus, verbringen unbeschwerte Zeit miteinander und zeigen uns unsere Narben. Öffnen uns und sprechen aus was so schwer auf der Seele lastet. 15 Jahre später denke ich mir immer noch das hat mich gerettet. Ich bin nicht allein, meine Sorgen sind okay und meine Narben sind nichts, wofür ich mich schämen muss. Ich werde angenommen und geschätzt.   

 

 

Unterstützung mit massiven Mängeln

Wenn ich darüber nachdenke welche Unterstützung ich damals bekommen habe, dann kommt mir fast das Grauen. Nachdem ich es endlich geschafft hatte um Hilfe zu bitten wurde ich zu Therapeuten gebracht. Nach zwei Sitzungen, einem Kurzbesuch beim Psychiater und einem einzigen Gespräch bekam ich Antidepressiva. Mit 16 Jahren. Ich kann immer noch nicht fassen, dass DAS die Lösung war. Mich mit Medikamenten künstlich glücklich machen zu wollen anstelle zu schauen, woher denn das Problem überhaupt kommt. Die Medikation wurde nie wieder überprüft – Gespräche gab es keine mehr. Ein Jahr lang habe ich die Tabletten genommen. Dass gleichzeitig mein Alltag, mein Zuhause, meine Angst immer größer und gefährlicher wurden, hat niemanden interessiert. Ich habe resigniert und versucht dieses Leben von meinem anderen Leben – das einer normalen Teenagerin – irgendwie zu trennen.

 

So fühlt es sich heute an

Die Narben am Arm sind verblasst, die Narben auf meiner Seele für immer spürbar. Es gibt Situationen, die mich triggern und gedanklich werde ich in die Vergangenheit zurückgeworfen. Doch anders als früher greife ich nicht mehr zur Klinge, sondern erzähle oder schreibe darüber. Ich gehe offen mit meiner Vergangenheit um und versuche meine Geschichte nach außen zu tragen. In eine Welt in der ich – je mehr ich darüber spreche – immer mehr bemerke, dass ich bei weitem nicht die einzige mit solchen Erlebnissen bin. Es ist sicherlich noch ein langer Weg dahin alles zu verarbeiten. Wenn es um meinen eigenen Papa geht, schaffe ich es fast nicht die Krankheit von der Person zu trennen, doch ich gebe mein Bestes. Er ist nicht die Depression oder der Alkoholismus – er ist einfach nur Papa, der leider viel zu oft von seiner Krankheit übermannt wurde. Ein Mann mit eigener Geschichte, eigenen Sorgen. Ein Mann, der es leider nicht geschafft hat, gesund zu werden und aus schlechten, selbstzerstörerischen Verhaltensmustern auszubrechen. Ein Mann, dem vielleicht genau diese eine Person gefehlt hat, die ihm zeigt, er ist nicht allein, er ist okay und darf seine Last aussprechen. Ich versuche für mich einen Mittelweg zu finden mich mit diesem Thema auseinanderzusetzen und gleichzeitig mein eigenes Leben unabhängig davon zu betrachten. Meine Vergangenheit hat mich gezeichnet, bestimmt aber nicht meine Gegenwart oder Zukunft. Ich habe es in der Hand mein Leben zu gestalten – ich habe die Kontrolle. 

 

Warum ich mich als Peer engagiere?

Mein größtes Anliegen in der Mitwirkung des Projekts peers4teens ist es anderen eine Stimme zu geben. Aufzuzeigen wie die Lebensrealität so vieler aussieht, aber auch ihnen zu zeigen, dass sie eben nicht allein sind. Außerdem vielleicht sogar dem entgegenzuwirken, dass vorzeitig Medikamente verschrieben werden, wo es vielmehr ein offenes Ohr und eine unterstützende Hand bräuchte. Anderen diese Hand zu geben, wo das System versagt. Das Ohr zu bieten das so vielen verwehrt bleibt.

 

 

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