Lasse ich meine Mama im Stich, wenn ich Hilfe hole?


Hilfe zu holen ist damit verbunden, erste Maßnahmen zu setzen, sei es einen Arzt hinzuzuziehen, eine nahe Bezugsperson zu informieren oder sich bei einer Beratungsstelle Informationen einzuholen. Doch was sind dann die nächsten Schritte?

 

Anfangs klingt all das beängstigend. Einerseits wünscht man sich, dass es seinem Elternteil besser geht, andererseits hat man unheimliche Angst, den ersten Schritt zu setzen und die Beziehung zu seiner Mama zu riskieren. Es bestehen Gedanken, ob die eigene Mutter einem so etwas verzeihen kann und ob das bedeutet, dass man sie im Stich lässt?

 

Im Sommer vor ein paar Jahren verschlechterte sich der psychische Zustand meiner Mutter stark, und ich bemerkte Wesensveränderungen. Ich sah ihr über die Zeit dabei zu, wie sie manisch wurde. Zunächst war ich so verängstigt und verunsichert, dass der einzige Weg für mich war, mich zurückzuziehen. Zurückzuziehen in meine eigene Welt, eine Welt, in der es keine Krankheit meiner Mutter gab. Doch für mich wurde sehr schnell klar, dass es unumgänglich ist, mich dieser Sorge zu stellen.

 

Einige Zeit später setzte ich einen ersten Schritt und alarmierte ihren Psychiater, um ihn über ihren aktuellen Allgemeinzustand zu informieren. Meine Hoffnungen waren groß, vielleicht zu groß für diesen ersten Schritt. Ich hoffte auf eine sofortige Lösung, aber die Informationen, die ich erhielt, gaben mir nicht sofort das Gefühl, als hätte ich sie gefunden. Der Psychiater klärte mich über eine Zwangseinweisung auf. Mit diesem Thema hatte ich bis dato keine Berührungspunkte, aber ich ließ mich darauf ein. Er erklärte, dass wenn sich der Zustand meiner Mutter weiter verschlechtert und es zu Selbst- oder Fremdgefährdung kommt, man mit Hilfe der Polizei und eines Amtsarztes eine Einweisung einleiten lassen kann.

Diese Informationen waren ein Schock. Ich wusste, dass meine Mutter krank war, aber dass solche Maßnahmen notwendig sein könnten, jagte mir ein gewisses Unwohlsein ein. Und ich dachte zu Recht so.

 

Ich war jedoch weiterhin aktiv und recherchierte im Netz. Dabei stieß ich auf Folgendes:

 

Eine Einweisung gegen den Willen des Patienten ist nur möglich (dann aber natürlich zwingend erforderlich), wenn eine akute und erhebliche Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt und keine andere Möglichkeit mehr besteht, den Erkrankten oder seine Umgebung durch weniger einschneidende Maßnahmen zu schützen.

 

Im Zuge der Recherche erfuhr ich, dass meine Mutter kein Einzelfall ist und es vielen Familien ähnlich ergeht. Das beruhigte mich und zeigte mir, dass es zumindest eine Möglichkeit gibt. Es ist zwar kein angenehmer Weg, aber besser, einen Strohhalm zu ergreifen, als in die Luft zu greifen.

 

Wieder vergingen Monate, bis sich etwas bewegte. Es war schlimm mitanzusehen, wie Woche für Woche verstrich, Monat für Monat, und man mit eigenen Augen zuschauen musste, wie sich die eigene Mutter veränderte – und das alles ohne jegliche Krankheitseinsicht. Auf Konfrontationen bekam ich nur zu hören, dass ich immer nur von negativen Dingen spreche.

 

Es dauerte nicht mehr lange, und sie begann Passanten auf der Straße zu beschimpfen und ihnen nachzuschreien. Schimpfwörter, Beleidigungen und viele weitere verbale Ausfälle wurden lautstark geäußert. In solchen Momenten wusste ich nicht mehr, ob ich meine Mutter überhaupt noch kannte. So war sie noch nie.

Leider fehlte nicht mehr viel, und die Zeit machte sie aggressiver und damit verbunden auch handgreiflich.

 

Auch der Nachbar meiner Mutter teilte mir mit, dass es in ihrer Nähe zu übergriffigem Verhalten anderen gegenüber kam und schon mehrmals die Polizei eingeschaltet wurde. Dennoch kam es zu keiner Zwangseinweisung, und ich fragte mich warum. Sahen die nicht, wie schlecht es meiner Mutter eigentlich wirklich ging?

Wieder verging einige Zeit, bis es zu einem Vorfall kam, bei dem meine Mutter mich nicht erkannte. Sie dachte, dass ich jemand anderes sei, jemand, der ihrer Tochter etwas Böses antun würde. In ihrem Glauben und ihrer festen Überzeugung, dass ich jemand anderes sei, wurde sie mir gegenüber aggressiv.

 

So schlimm dieser Moment auch war, das war der Zeitpunkt, an dem ich endlich selbst etwas unternehmen konnte. Ich rief zum ersten Mal die Polizei an, ganz verunsichert wählte ich die Nummer und bat sie, so schnell wie möglich zu kommen. Ich hatte Glück, da die nächste Polizeistation nicht weit entfernt war.

Wenige Minuten später entschied ein Polizist vor Ort, einen Amtsarzt hinzuzuziehen - der Einzige, der meine Mutter in die Psychiatrie bringen konnte. Diesmal war es erfolgreich. Die Angst, dass dieser Schritt etwas mit unserer Beziehung anrichten könnte, begleitete mich weiterhin.

 

Nach zwei Monaten Aufenthalt in der Psychiatrie und einer guten medikamentösen Einstellung wurde meiner Mutter bewusst, dass ich ihr mit dieser Entscheidung nichts Schlechtes tun wollte. Sie sah ein, dass man ihr nur helfen wollte – was für ein Erfolgserlebnis, dachte ich mir. Ich hatte meine Mutter wieder ein Stück mehr zurück als zuvor.

 

 

Es war jede Angst wert - da wusste ich dann, dass ich meiner Mutter definitiv nicht im Stich gelassen habe. 

 

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