Ich bin kein Superheld


Ich gehe die Straße entlang und weiß, dass ich in gut 500 Metern meine Mutter antreffen werde. Letztens machte sie einen guten Eindruck auf mich. Zumindest so gut, dass ich behaupten kann, dass sie momentan ihre Medikamente regelmäßig einnimmt. 

 

Von weiten sehe ich sie schon winken und mich laut und voller Freude begrüßen. Mein Bild von ihr wird immer schärfer und ich erkenne, dass sie plötzlich in komplett zerrissener Hose bei der Busstation auf mich wartet. Nicht schon wieder. Letztens ging es ihr doch so gut. Nimmt sie ihre Medikamente nicht mehr?        

 

Gut, ich begrüße sie mal, ohne meine innerlichen Sorgen und Bedenken laut zu äußern. Ich frage sie, was der Grund ihrer zerrissenen Hose ist. Vielleicht hat sie ja einen triftigen Grund dafür. Ein Überfall oder sie ist blöd hingefallen oder sie hat sich auf einen Stein gesetzt, der etwas schärfer war…  Okay, ich merke, dass ich mir Ausreden für sie ausdenke. 

 

„Es war jemand vom Haus in meiner Wohnung und hat meine Hose zerrissen.“ Mit dieser Antwort von ihr habe ich nicht gerechnet oder ich wollte einfach nicht damit rechnen. Die Wahrscheinlichkeit, dass nämlich ein Fremder in ihre Wohnung einbricht, um ihr dann ihre Hose zu zerreißen, ist, denke ich, doch sehr gering.  

 

Ich versuche mit ihr zu reden und ihr zu erklären, dass es vermutlich anders passiert sein wird, damit sie die Schuld nicht bei ihren Nachbar:innen sucht, aber wie immer erfolglos. Sie ist von ihrer Meinung so überzeugt, dass nicht mal der Präsident von Amerika kommen könnte, um es ihr zu erklären. Meistens steigert sie sich so in ihre Geschichten hinein, dass sie sogar auf der Straße laut zu werden beginnt. 

 

Leider beharrt sie auf all ihren Vorstellungen so sehr. Ihre Nachbar:innen sollen ihr die Schrauben im Kasten gelockert und ihr ganzes Essen gestohlen haben. Weil sie selbst keines mehr haben. Genau, so wird es sein! 

 

In diesen Moment kommt das starke Gefühl der Hilflosigkeit und der puren Überforderung in mir hoch. Ich fühle mich alleine. Alleine gelassen in so einer Situation. Ich weiß, was real ist. Wieso weiß sie das nicht? Wieso? Wieso ist ihre Wahrnehmung so verzogen und wieso kann ich sie nicht ändern? Das Leben wäre doch so viel einfacher. 

 

Wie oft ich das gesagt und gedacht habe. Leider habe ich trotzdem noch keine Antworten auf diese Fragen, zumindest keine, die irgendwie zufriedenstellend für mich sind. Ich weiß, sie ist krank, aber es ist scheiße, immer alles akzeptieren zu müssen. 

 

Ich schreibe an alle, die diesen Kurzbeitrag lesen und sich angesprochen fühlen. Ich weiß, wie du dich fühlst. Ich möchte dich hiermit ermutigen, darüber zu sprechen, denn das ist das Einzige, das ich empfehlen kann und wovon ich weiß, dass es hilft. Ich bin zwar kein Superheld und kann deine oder meine Mutter nicht heilen, aber ich kann dir eine offene Kommunikation ans Herz legen. Rede mit einer Freundin, einem Kollegen, einem Schulkameraden oder einer Fachperson darüber. #VISIBLE #TALKABOUTIT 

 

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