Einer dieser Tage


Heute kotzt mich alles an. Dass wir übermorgen Mathe-Schularbeit schreiben, kotzt mich an. Dass ich letztens im Mathe-Unterricht eingeschlafen bin und die ganze Klasse gelacht hat, als mich der Lehrer weckte, kotzt mich auch an. Dass ich die Nacht davor nicht schlafen konnte, weil meine Mama schon wieder herumgelärmt hat, kotzt mich an. Die schöne Weihnachtsdekoration bei meiner besten Freundin zu Hause kotzt mich an. Sie erinnert mich daran, dass es bei uns zu Hause nie schön dekoriert, geschweige denn richtig sauber ist. Auch das große Familienessen am Neujahrstag bei meiner besten Freundin kotzt mich an. Onkeln und Tanten und Sekt und Gelächter. Ich bin zwar auch eingeladen, aber das ist nicht das Gleiche. 

 

Heute ist nicht einer der Tage, an denen ich rational sage: „Immerhin habe ich eine beste Freundin, deren Familie auch ein bisschen wie meine ist. Alle sind total nett und nehmen mich auf.“ Nein – heute kotzt es mich an. Ich will kein Leben, in dem ich aufgenommen werden muss. Ich will keine mitleidigen Blicke, wenn dann die eine Tante bemüht fragt, wie es meiner Mama denn momentan so gehe. Ich will auch nicht wie immer mit einem bemühten Lächeln „es passt momentan eh“ antworten. Ich will sagen: „Es geht ihr scheiße und ja, richtig, du errätst es – ES KOTZT MICH AN!“ Aber das sagt man nicht. Weil man positiv ist. Weil das Glas halb voll sein muss. 

 

„Guten Tag. Bitte beachten Sie, dass unsere Ordination bis einschließlich 10.01. geschlossen ist, danach sind wir gerne wieder für Sie da.“ Damit hat der Tag heute angefangen. Ich habe die erste Stunde geschwänzt und probiert, den Psychiater meiner Mama zu erreichen. Aber der ist auf Urlaub. Liegt wahrscheinlich irgendwo in Costa Rica am Strand und schlürft Mojitos, während ich hier bin und dringend jemanden brauche, der mir sagt, was ich mit meiner Mama machen soll. Das kotzt mich an. 

 

Danach bin ich in die Schule gerast, nur um von meinem Englisch-Lehrer vor der ganzen Klasse gefragt zu werden, wo ich denn in der ersten Stunde gewesen sei.  „Meine Mama hat seit drei Tagen das Bett nicht verlassen, ihr Psychiater ist auf Urlaub und es kotzt mich an!“ Das würd ich ihm am liebsten ins Gesicht schreien. „Ich habe meine Periode und bin mit Bauchschmerzen aufgewacht“, sage ich stattdessen. Das überfordert Herrn Hagen, das weiß ich. Das überfordert eigentlich fast alle männlichen Lehrer ein wenig, deswegen bekomme ich wie zu erwarten als Antwort nur: „Alles klar.“ 

 

Ich setzte mich nieder und starre Jakob an. Jakob, mit dem ich mein erstes Mal hatte. Jakob mit seinen braunen Locken und stahlblauen Augen. Jakob, der nachts mit mir ins Schwimmbad einbricht und mich stürmisch küsst, bevor wir vom Zehnmeterturm springen. Jakob, der sich seit zwei Wochen komisch verhält. Während ich in anstarre, schaut er zu mir rüber und grinst mich an. Ich grinse nicht zurück. Es kotzt mich an, dass natürlich genau ich mich wieder in den Typen verliebt habe, der nach Abenteuer schreit und nicht nach Sicherheit. Abenteuer habe ich daheim eigentlich schon genug. 

 

Tja, es ist also einer dieser Tage. Morgen kann ein Tag sein, an dem ich wieder die „Ach, schlimmer geht immer“-Ayla bin. Die Ayla, die sich einen anderen Psychiater sucht und es bei dem probiert. Die Ayla, die zum Neujahrsbrunch bei ihrer besten Freundin geht und sich freut, eine kleine Ersatzfamilie zu haben. Die Ayla, die immerhin in der Schule nur Einser schreibt. Die Ayla, die funktioniert. Aber heute kotzt es mich an. Es kotzt mich an, dass ich Freund:innen hab, mit denen ich sprechen kann, aber die es nicht verstehen können. Es kotzt mich an, dass ich mich fühle, als wäre ich die Einzige, die sich mit so was herumschlagen muss. Es kotzt mich an, dass es meiner Mama nicht einfach gut gehen kann. Dass so viele Menschen einfach jeden Tag aufwachen und gesund sind, aber sie nicht. Dass sie an einer Krankheit leidet, für die man auch noch schräg angeschaut wird, ja das kotzt mich eigentlich am allermeisten an.

 

Und ich glaube, das ist okay. Es ist zum Kotzen. Psychische Krankheiten sind zum Kotzen. Psychisch erkrankte Eltern zu haben oft auch. An manchen Tagen reicht die Energie einfach nicht aus, der Situation auch noch irgendetwas Gutes abzugewinnen. Ich glaube, das zu akzeptieren, macht es auch irgendwie einfacher. An diesen Tagen liege ich also den ganzen Nachmittag im Bett, höre Billie Eilishs „You should see me in a crown“ in Dauerschleife und bin sauer. Auch das darf sein.

 

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