Darf ich glücklich sein und Spaß haben, obwohl meine Mutter krank ist?


Seit knapp 2,5 Jahren gilt meine Mutter als psychisch erkrankt. Mit 54 Jahren ist sie nun auch in Frühpension. Anfangs dachten wir uns in der Familie, es sei Burnout. Viel mehr konnte ich mir damals nicht darunter vorstellen - sie war überarbeitet und gestresst, somit dachte ich nicht weiter, muss wohl Burnout sein. 

 

Meine Mutter hatte in den letzten 2,5 Jahren einige Aufenthalte im Krankenhaus auf der psychiatrischen Abteilung. Krank zu sein ist eine Sache und die ist schon schwer genug für alle Beteiligten. Die Krankheit jedoch nicht anzuerkennen, also uneinsichtig zu sein, weil das eben eines der Symptome der Krankheit ist, das ist wirklich schwer. Es ist für mich schwer und genau so kann ich es mir aus der Sicht meiner Mutter schwer vorstellen. Wenn einem niemand glaubt, was man sagt, das muss furchtbar sein. Doch eigentlich kenne ich das Gefühl. Denn ich habe meiner Mutter oft zu erklären versucht, dass sie nicht an einer Hautkrankheit leidet (das ist ihr Wahn), sondern dass sie psychisch erkrankt ist. Aber das sieht sie nicht ein. Sie hat eine verzerrte Wahrnehmung. Sie denkt ununterbrochen an ihre „Schuppenflechte“. Rennt ständig zum Spiegel, um ihre Haut zu begutachten. Sobald sie einen neuen Punkt auf der Haut hat, bekommt sie die Krise. Sobald sie einen Pickel bei mir im Gesicht entdeckt, fragt sie gleich ängstlich, warum ich denn einen Pickel habe, woher der kommt. Unlogische Schlussfolgerungen gesellen sich dazu. Sie könne auf einmal dieses und jenes nicht mehr essen, weil sie ja davon die „Schuppenflechte“ bekommt. Komisch ist aber, dass, wenn sie dieses Essen dann weglässt, wie z.B. Weizen, sie ja dennoch unter der „Schuppenflechte“ leidet. Doch es bringt nichts, mit ihr zu diskutieren. Ihr Argumente vorzulegen, um zu beweisen, dass sie nicht an einer Schuppenflechte leidet, war vergebens. Ich habe mir den Mund fusselig geredet. So viel Energie in Überzeugungsarbeit gesteckt, versucht, ihr zu beweisen, dass sie nicht an einer Schuppenflechte leidet, sondern psychisch krank ist. Erfolglos. 

 

Ich habe im ersten Jahr sehr viel Kraft, Energie und Ausdauer in die Pflege und Unterstützung meiner Mutter gesteckt. Ich bin jedes Wochenende zu ihr gefahren. Ich wohne in Wien, sie am Land. Ich habe versucht, unter der Woche, neben meinem 40h-Job, so viel wie möglich zu unternehmen, damit ich am Wochenende bei meiner Mutter sein kann. 

 

Durch manche ihrer Aussagen hatte ich eine Zeit lang auch Angst, dass sie sich etwas antun könnte. Ich blieb somit am Sonntag dann schon bis 20 Uhr bei ihr. Doch im Endeffekt war es egal, wie lange ich bei ihr war. Ob es ein Tag war, ob es zwei Tage waren. Es war egal, ob ich bis Sonntag um 13 Uhr oder 19 Uhr bei ihr geblieben bin. Zum einen hat sie das Haus nicht verlassen - auch wenn ich bei ihr war. Ich dachte mir, sie braucht mich ja, vielleicht geht sie mit mir spazieren. Vielleicht fährt sie mit mir zu meiner Oma. Denn von allein tat sie nichts. Die einzigen Wege, die sie zurücklegte, waren von dem Bett auf die Couch, zum Kühlschrank und ins Badezimmer. Wenn dann das Wochenende, der Sonntag, vorbei war und ich mich wieder auf den Weg nach Wien machen wollte, begann sie plötzlich mit Sätzen wie: „Bleib da. Hilf mir. Ich brauche dich. Sonst bringe ich mich um.“ Anfangs hat mich das das ein oder andere Mal schon dazu gebracht, dass ich auch noch am Sonntag über Nacht geblieben und dann direkt am Montag in der Früh in die Arbeit gefahren bin. Am Weg nach Wien war ich immer sehr aufgelöst, habe geweint. Jedes Mal. Ich war meist stark vor meiner Mutter und wollte ihr nicht das Gefühl geben, dass sie mich belastet. 

Wobei ich schon ab und zu, wenn ich dabei war, ihr zu erklären, dass sie nicht an einer Schuppenflechte leidet, die Nerven verloren, auch mal geschrien und etwas geworfen habe. Es waren meist nur Zeitschriften. Ich wollte ja nichts kaputt machen und schon gar nicht ihr weh tun. Es kam auch mal vor, dass ich einfach mit der Faust sehr oft auf den Tisch geschlagen habe, weil mich ihre Aussagen schon so genervt haben, dass mich dann einfach die Faust extrem geschmerzt hat. Ich wusste nicht mehr, wie ich damit umgehen sollte. Es hat sich so viel Frust und Ärger und auch Trauer in mir aufgestaut. Ich wollte einfach wieder ein normales Mutter-Tochter-Verhältnis haben. 

 

Ich habe über ein Jahr versucht, meine Mutter zu „therapieren“. Ich dachte, durch das gute Zureden wird das schon werden. In diesen 1,5 Jahren war meine Mutter mehrere Male im Krankenhaus auf der psychiatrischen Abteilung. Anfänglich ging es ihr noch gut nach jedem Aufenthalt, die Medikamente wirkten. Kam meine Mutter jedoch nach drei bis vier Wochen wieder nach Hause, nahm sie keine Medikamente mehr und der ganze Spaß begann von vorne. Es fühlte sich an wie in einem Hamsterrad. Ich war in 1,5 Jahren so oft im Krankenhaus, ich habe so oft mit den behandelnden Ärztinnen und Ärzten gesprochen. Diese Gespräche endeten in etwa alle gleich: „Sie können Ihrer Mutter nicht helfen. Ihre Mutter lässt sich nicht helfen. Sie sind eine gute Tochter, aber mehr können Sie nicht tun.“

Nach 1,5 Jahren habe ich das so halbwegs eingesehen und nach sehr langem Denken „Was hilft mir eine Gesprächstherapie, wenn meiner Mutter, die ja eigentlich psychisch erkrankt ist, nicht mal in Therapie geht?“ mich dazu entschieden, in Therapie zu gehen. Was soll ich sagen? Es war die beste Entscheidung, die ich treffen konnte. Ich bereue keinen Cent für diese Therapie. 

 

Nach nur zehn Sitzungen habe ich gelernt, dass ICH auf meine Bedürfnisse und Interessen immer zuerst hören darf. Nur wenn es MIR gut geht, kann ich für andere da sein. Es tut mir nicht gut, jedes Wochenende zu meiner Mutter zu fahren? Gut, somit fahre ich nur mehr alle zwei Wochen oder sogar nur alle drei Wochen. So wie es für MICH passt und erträglich ist. Ich darf und soll mein Leben genießen. 

 

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