Der Tag, an dem ich die Türe öffnete

Eigentlich bin ich kein Mensch, der sich schnell für irgendwas schämt. Ich bin meinen Freunden gegenüber wahnsinnig offen. Sie mir gegenüber auch. Seien es extrem intime Gedanken oder irgendwelche sehr spezifischen momentanen körperlichen Beschwerden – eigentlich nehme ich so schnell kein Blatt vor den Mund. Aber nichts ist für mich intimer als mein Papa in seinen psychischen Ausnahmezuständen. Wie er entweder so depressiv durch die Gegend schlurft, dass man auf 200 Meter Entfernung merkt, dass hier irgendwas nicht stimmt. Oder wenn er, was dahingehend noch viel schlimmer ist, manisch komplett drüber ist. Jedes Mal, wenn ich dann mit ihm zum Psychiater gehe und er auf dem Weg oder im Wartezimmer Menschen unangebracht anquatscht, möchte ich im Boden versinken. Meistens schaffe ich es nicht einmal richtig, die andere Person aufzuklären oder meinen Papa wegzuziehen. Meistens starre ich einfach nur gerade aus und warte, bis wir weiterlaufen oder aufgerufen werden. Ich schäme mich. Ich schäme mich für das Verhalten von meinem Papa. Ich schäme mich aber auch dafür, dass ich mich für sein Verhalten schäme. Er kann ja überhaupt nichts dafür. Und manchmal schäme ich mich auch für die Reaktionen anderer Personen, die teilweise absolut unsensibel sind.

 

Das hat zur Folge, dass ich mit meinem Papa während seiner psychischen Ausnahmezustände so selten wie möglich gemeinsam das Haus verlasse. Auch dafür schäme ich mich manchmal. Aber ich kann einfach nicht anders. Außerdem habe ich es immer vermieden, Freunde zu mir einzuladen, vor allem wenn mein Papa gerade manisch ist. Obwohl meine Freunde alles über die Situation wissen. Obwohl ich mit ihnen in aller Ausführlichkeit bespreche, was das alles in mir auslöst. Bis zu dem Tag, an dem ich die Türe öffnete. Der Tag, an dem ich die Türe öffnete, war in einer besonders schlimmen Zeit. Mein Papa war schon seit Wochen manisch. Schlief wenig, tanzte viel, hatte viel Frauenbesuch, redete unzusammenhängendes Zeug. Krankheitseinsicht war wie so oft kaum gegeben. Gleichzeitig hatte ich meinen ersten richtigen Liebeskummer. Keine gute Kombination. Viele Tage lag ich einfach nur im Bett, mit dem letzten Pulli, den mein Ex-Freund Max bei mir vergessen hatte, und an den ich mich klammerte wie eine Ertrinkende an eine Boje. Die Kopfhörer mit voller Lautstärke „Someone you loved“ im Ohr, nur um gleichzeitig zu probieren, nicht so laut zu weinen, dass mein Papa kam. Ach wie sehr ich ihn gerade brauchen könnte. Meinen gesunden, normalen Papa. Ich würde alles dafür tun, ihn einfach so lange drücken zu können, bis er wieder er ist und für mich da sein kann. Es war also einer dieser Nachmittage, an dem ich merkte, ich kann meine Freunde nicht mehr länger von meinem Zuhause fernhalten. Ich wollte mit meinen Freundinnen in meinem Bett kuscheln. Außerdem brauchte ich dringend jemanden, der mir diesen scheiß Pulli von Max wegnahm. Und irgendwo, tief in mir drinnen, wollte ich wahrscheinlich auch nicht mehr nur erzählen, was bei uns Zuhause so passiert. Ich wollte, dass sie es sich irgendwie besser vorstellen konnten.

 

Wahrscheinlich war es im Endeffekt auch einfach nur ein Moment, an dem ich schlicht und einfach keine Energie mehr für Scham übrighatte. Also lud ich meine zwei besten Freundinnen zu mir nach Hause ein. Es war ungewohnt und es hat sich wahnsinnig intim angefühlt, aber es hat eine Türe geöffnet, die ich danach nicht mehr wieder verschlossen habe. Und ich hatte bis zu dem Tag überhaupt keine Ahnung, wie sehr mir das helfen würde. Nicht weil es so wahnsinnig umständlich ist, das Haus zu verlassen, um meine Freunde zu sehen. Sondern weil ich mich dadurch selbst noch mehr in der Situation isoliert habe. Meine kleine Welt daheim hatte, in die niemand wirklich Einblick hatte. Ich habe realisiert, dass meine Freundinnen mit vielen Situationen überhaupt nicht so überfordert waren, wie ich dachte. Im Gegenteil, sie gingen großartig mit der Situation und meinem Papa um. Zeigten teilweise sehr viel Geduld, waren aber auch radikal ehrlich, wenn es darum ging, dass das für mich keine Situation ist, in der ich momentan leben sollte. Meine beste Freundin war am Ende sogar einmal dabei, als ich die Polizei rufen musste.

 

Ich weiß, dass ich wahnsinniges Glück mit meinen Freund:innen habe. Ich glaube aber auch, dass man seinen Freund:innen manchmal mehr „zutrauen“ kann, als man meint. Das gilt wahrscheinlich nicht nur für Freund:innen. Auch für Lehrer:innen beispielsweise. Auch ein Anruf bei einer sozialen Einrichtung oder eine Kontaktaufnahme beim #visible Chat bedeutet, die Türe einen Spalt breit zu öffnen. Manchmal löst das eine Erleichterung aus, die man sich davor überhaupt nicht ausmalen konnte.

 

Die Türe zu öffnen bedeutet für mich einfach, jemanden hereinzulassen. Nicht mehr so alleine zu sein. Sei es das räumliche Zuhause oder die eigene Gedanken- und Gefühlswelt. 

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