Der Arbeitsunfall


Ich war Anfang 20 und gerade in der Arbeit. Es war mein erster richtiger Job nach der Matura. Auf einmal eine SMS von meiner Mama: „Hast du kurz Zeit?“ Ich ging in einen Besprechungsraum und wir telefonierten. 

Wenn ich gewusst hätte, was mich erwartet, hätte ich diesen Anruf nicht in der Arbeit geführt. Es war November und Mama erzählte mir, dass sich mein Papa schon seit Sommer komisch verhält. „Du weißt doch, dass er diesen Arbeitsunfall hatte…“

Ja, natürlich konnte ich mich erinnern. Mein Vater arbeitete immerhin sein ganzes Leben lang in dieser Firma. Und in all den Jahren hatte er nie einen Fehler gemacht. Und auch an diesem einen Sommertag war es kein Fehler. Er griff für eine Sekunde ins Innere einer Maschine und verletzte sich dabei an der Hand. 

Der Finger war schnell geheilt. Pflaster drauf. 

 

Doch was nach diesem besagten Unfall geschah, sprengte meine Vorstellung.

„Wie konnte das passieren?“ Immer wieder stellte sich mein Papa diese Frage. „Was habe ich falsch gemacht?“

Tag ein, Nacht aus, sein ganzes Leben lang dieselbe Tätigkeit.

Doch nun durchbrach eine Sekunde Unachtsamkeit die geliebte Ordnung, den kalkulierbaren Ablauf.

Blackout. Gar nichts war mehr, wie es früher war…

 

Meine Mama erzählte mir am Telefon die übelsten Sachen. 

Mein Papa spricht auf einmal mit Aliens!

Ich lachte. Blödsinn. Was? 

Das ist doch nicht mein Papa! 

Über 20 Minuten erzählte sie mir die absurdesten Sachen. 

 

Ich glaubte ihr nicht und versprach, sie bei der ersten Möglichkeit zu besuchen. Wie konnte ich das alles nicht bemerken? Ich wohnte seit knapp einem Jahr nicht mehr zuhause. Wenn ich mit meinen Eltern telefonierte, dann eben immer über Mama. Wie konnte ich Monate lang nicht merken, dass mein Papa nun imaginäre Freunde hat? 

 

Bei der nächsten Gelegenheit besuchte ich meine Eltern. Da war Mama, völlig aufgelöst. Und ein Mann, der aussah wie mein Papa. Aber er verhielt sich seltsam. Mal total aufgekratzt und überschwänglich, mal abwesend und beängstigend. Dazwischen nahm er auch mal kurz unsere Katze und schmiss sie quer durchs Zimmer. 

Das war nicht mein Papa. 

Das machte mir Angst. 

Wieso kann man nicht mehr vernünftig mit ihm reden? 

 

Zuhause angekommen, fragte ich Google. Aber wie sucht man etwas, das man selbst nicht benennen kann? „Papa knallt durch“ war eine meiner ersten Suchanfragen.

 

Die nächsten Jahre haben mir den Boden unter die Füße weggezogen. Es war doch nur ein Arbeitsunfall. Aber auf einmal verhielt sich mein Papa komisch und war nicht mehr derselbe. Zuhause wurde nicht mehr Radio gehört, auch der Fernseher „sprach“ zu ihm und wurde deshalb nicht mehr aufgedreht.

Tagsüber lief Papa oft auf die Straße, mal barfüßig, mal halbnackt.

Das war nun die neue Realität.

 

Die Jahre darauf würden ein Buch füllen. Alle Geschichten, die wir nun durchlebten. Alle Tränen. Alle Hoffnungen. Alle Rückschläge. 

Am meisten bleibt das Gefühl: Wie konnte das geschehen? Warum wir? Aber vor allem: War mein Papa nicht IMMER schon komisch? Haben wir es bloß nicht gemerkt? Sind wir alle verrückt?

Auf einmal ist das Scheußlichste nach oben gekommen. Das Klo ist verstopft und alles schwimmt oben.

Nur hier braucht es keinen Installateur, hier braucht es einfühlsame Menschen, die einem durch die Zeit helfen.

Echte Freunde, einfühlsame Therapeuten, Expertinnen. 

 

Mit den Jahren, die wir durch die Hölle gingen, wurde Papa stabil. Ohne Medikamente ging das nicht. Aber das ist unser Preis, damit die Aliens nicht mehr kommen. 

Es ist nicht leicht. Papa wird nie wieder derselbe. Aber wir lernen jeden Tag, damit umzugehen. 

Ich bin noch empathischer geworden und empfänglich für das Thema „psychische Erkrankungen“. Es ist eben ein Teil unseres Lebens geworden. 

 

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